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Warum Lebewesen aussehen, wie sie aussehen

Erde|Umwelt Kommentare

Warum Lebewesen aussehen, wie sie aussehen
Eine außergewöhnliche Pflanze ist die Riesenrafflesie in Indonesien. Sie gilt als größte Blume der Welt und besitzt weder Wurzeln, Stängel oder Blätter. (Foto: mazzzur/iStock)
Wie entstehen eigentlich Strukturen und Gestalten in der Natur? Vor 100 Jahren hat darüber der aus Edinburgh stammende Mathematiker und Biologe D’Arcy Wentworth Thompson das Buch „On Growth and Form“ verfasst. Damals hat er auf vielen Hundert Seiten beschrieben, dass seiner Kenntnis nach die Lebewesen durchs Wachsen ihre Form bekommen. Seit 1992 gibt es eine umfassende neue Ausgabe als Dover Edition. Aber lohnt diese Lektüre heute überhaupt noch?

„Ich behaupte nur, dass in jeder besonderen Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen könne als darin Mathematik anzutreffen ist.“ Der Satz stimmt offenbar nicht so ganz, wenn auch klar ist, was der Autor sagen will: Eine Disziplin ist nur dann als Wissenschaft zu bewerten, wenn sie in der Sprache der Mathematik daherkommt. Der Urheber der schlecht zitierten These ist kein Geringerer als Immanuel Kant. In dieser holprigen deutschen Version findet sie sich in dem englischen Buch „On Growth and Form“ des Biologen D’Arcy Thompson. Der Forscher hat den Philosophen aus Königsberg ernst genommen und im Original studiert, um dessen subtile Meinung zu verstehen, zum Beispiel dass die zeitgenössische Chemie „eine Wissenschaft, aber nicht Wissenschaft“ sei, wie Thompson Kant zitiert.

Diese abschätzige Einstellung des Philosophen hatte spätestens im 19. Jahrhundert kaum noch Bestand, nachdem es Chemikern und Physiologen gelungen war, die molekularen Mechanismen der Reaktionen in Reagenzgläsern oder in Retorten durch mathematische Gleichungen zu beschreiben – so wie es Isaac Newton und Pierre-Simon Laplace zuvor mit den Bewegungen der Himmelskörper gelungen war.

Wo liegt der Ursprung der Formen?

D’Arcy Thompson beschäftigte sich mit der Hoffnung des deutsch-baltischen Naturforschers Karl Ernst von Baer: dass es gelingen wird, „die bildenden Kräfte des thierischen Körpers auf die allgemeinen Kräfte oder Lebenserscheinungen des Weltganzen zurückzuführen“.

Natürlich hat Thompson auch Goethe gelesen, der in seinen Schriften wenig Neigung zeigte, der Mathematik einen festen Platz in der Naturgeschichte zuzuweisen. Und so machte sich der Brite in seinem großen Werk an die Frage, wo tatsächlich der Ursprung aller Formen in der Natur zu finden ist. Er dachte dabei vor allem an seinen Landsmann Newton und die Schwerkraft. Die zeige etwa Einfluss auf das Wachsen von Tierhörnern, zum Beispiel bei den spiralförmigen Hörnern von Widdern – wobei sich diese Form nicht allein mit der Gravitation erläutern lässt. Die Spiralen hatten es Thompson aber angetan, die er an Ammoniten und Muscheln beobachtete und deren Wachstumsschwung er ergründen wollte.

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Das Ziel des Buches „Über Wachstum und Form“ bleibt dabei einfach, nämlich zu erkunden, ob und wie eine sich entwickelnde lebendige Gestalt mittels physikalischer Betrachtungen verstanden werden kann. Thompson wollte wissen, warum etwa Hunde, Fische oder Vögel so aussehen, wie sie in der Natur auftreten. Diese Frage wartet aber nach wie vor auf eine einleuchtende und zufriedenstellende Antwort. Aus dem einfachen Grund, weil sich die Biologen spätestens seit den 1930er-Jahren von Gestaltbetrachtungen dieser Art abgekehrt und dafür der genetischen Analyse zugewendet haben. Während Thompson wissen wollte, welche physikalischen und chemischen Gesetze dem Wachstum Bedingungen auferlegen, versuchte die neue Generation der Molekularbiologen die genetischen Gegebenheiten zu erfassen. Die Genetik wollte erklären, warum ein Hund so aussieht wie ein anderer Hund, während Thompson zu erfassen versuchte, warum ein Hund überhaupt so aussehen kann, wie ihn die Evolution und die Züchter hervorgebracht haben.

Sind Gene kreativ?

Niemand bestreitet den Erfolg der modernen Genetik, aber man sollte nicht übersehen, dass die Forscher bei der Analyse der Erbfaktoren im kausalen und biochemischen Detail steckenbleiben und nicht wirklich wissen, warum und auf welche Weise Gene Gestalten erzeugen. In der Nachfolge von Thompson ging der britische Pflanzengenetiker Enrico Coen dieser Frage nach. 1999 erschien sein Buch „The Art of Genes – How Organisms Make Themselves“, in dem er mit modernen Mitteln wiederholte, was Thompson unternommen hatte. Coen wandte sich überzeugend gegen die Idee, dass die Gene so etwas wie ein mechanisches Programm lieferten, um einem wachsenden Körper seine Form zu geben. Sondern Coen schlägt mutig vor, den Genen die Fähigkeit zur bildenden Kreativität einzuräumen.

D’Arcy Thompson hätte das gefallen, zeigt sich doch in den Formen des Lebens eine „Harmonie der Welt“, wie er am Ende seines Buches schreibt, das mit dem Bekenntnis endet: „the Poetry of Natural Philosophy“ – die Poesie der Naturphilosophie sei in dem Konzept der mathematischen Schönheit verkörpert. Und diese Schönheit gilt ihm als „perfekt“, denn sie ist sehr nützlich und hervorragend zugleich. So versteht man auch, warum einem das Leben gefällt, und könnte glatt ins Schwärmen geraten.

© wissenschaft.de – Ernst Peter Fischer
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